Philatelie-Geschichte(n)
Kennen Sie Hatay und Occussi Ambeno?
Kennen Sie Hatay? Es ist eine türkische Provinz, die im Zusammenhang mit den jüngsten Spannungen
zwischen Syrien und der Türkei immer wieder in den Fokus der Öffentlichkeit gerät. Dass diese
Region vor 75 Jahren ein - wenn auch nur kurzlebiger - autonomer Staat war, wissen sicher die
wenigsten. Vielen unbekannt dürfte auch Occussi Ambeno sein. Dieses Phantasie-Sultanat wurde 1973
von einem Schwindler namens Bruce Grenville aus Neuseeland geschaffen. Er erfand eine Geschichte
und erzählte diese auch in Form von Briefmarken, die weltweit bei Sammlern begehrt waren. Hatay
und Occussi Ambeno sind nur zwei von 60 untergegangenen Reichen, abtrünnigen Provinzen,
Schwindelprojekten und Kompromissbildungen, die Dr. Burkhard Müller in seinem Buch "Verschollene Länder"
vorstellt. Der Dozent für Latein am Zentrum für Fremdsprachen der Technischen Universität Chemnitz
erzählt darin eine mit leichter Feder geschriebene Weltgeschichte in Briefmarken. Er geht dabei weit
über das hinaus, was man im "Michel" und anderen Katalogen der Philatelisten findet.
In kurzweiligen zu "gezähnten Zetteln" passenden Kapiteln erfährt der Leser viel Interessantes
und Humorvolles über insgesamt 60 Länder in der Gestalt von Zwergen- bis zu Riesenreichen: Etwa
über Feuerland, das am leichtesten zu sammelnde verschollene Land überhaupt, denn von ihm gibt es
nur eine einzige Briefmarke. Oder über die Marke "Futsches Reich", die von den Amerikanern kurz
vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges als Propagandafälschung in Umlauf gebracht wurde. Und natürlich
fehlt auch nicht die großflächige Sowjetunion, deren Untergang kaum voraussehbar war. Alle von
Burkhard Müller zusammengestellten Länder haben eines gemeinsam: Sie beglaubigen sich durch Briefmarken
als Abzeichen ihrer Hohheit. "Ihre Armeen zerstoben, ihre Politiker versauerten im Exil, für eine
eigene Architektur haben oftmals Zeit und Mittel nicht gelangt. Immer aber haben sie, und wenn sie nur
drei Tage währten und drei ratlose Funktionäre zu ihrer Verfügung hatten, den Weg an einen Druckstock
gefunden, der ihnen die kleinen gezähnten Zettel auswarf", so der Autor in seinem Vorwort. Die Marke
mit der wohl schlechtesten Qualität stammt aus dem kleinen Reich Charkhari in Zentralindien, deren
Aufmachung laut Müller eher "den Eindruck eines traurigen Tiefstandes der Handwerkskunst in der
indischen Provinz" vermittelt.
Die "Verschollenen Länder" verdanken ihre Existenz zwei Serien von Zeitungskolumnen, die in der
Süddeutschen Zeitung und in der Berliner Zeitung abgedruckt wurden. Ein Vorläufer des Buches
erschien mit gleichnamigem Titel bereits 1998, 20 Länder schafften noch einmal überarbeitet den Weg
in die neue Ausgabe. Auch das neue 200-seitige Nachschlagewerk dürfte nicht nur für Briefmarkensammler,
Historiker und Geografen interessant sein. Aufmerksame Leser beider Ausgaben werden feststellen, dass
einst selbstständige staatliche Gebilde, die vor langer Zeit aufhörten zu existieren, aus Müllers Liga
der verschollenen Länder auch wieder ausscheiden können. So schaffte Montenegro nicht den Sprung von
der ersten in die zweite Ausgabe von Müllers Buch, denn die Republik, die fast 90 Jahre zu Jugoslawien
gehörte, ist seit 2006 unabhängig und somit als autonomer Staat bereisbar. Und sollte es eines Tages
eine dritte Ausgabe der "Verschollenen Länder" geben, ist vielleicht auch Katalonien wieder souverän.
Bibliografische Angaben: Burkhard Müller: Verschollene Länder. Eine Weltgeschichte in Briefmarken,
Springe 2013. Zu Klampen Verlag, 200 Seiten, ISBN 978-3-86674-221-5, Preis: 24 €.
Weitere Informationen erteilt Dr. Burkhard Müller, Telefon 0371 531-31163 oder 0371 8102343, E-Mail burkhard.mueller@sz.tu-chemnitz.de
Quelle: Informationsdienst Wissenschaft - idw - Pressemitteilung
Technische Universität Chemnitz, Dipl.-Ing. Mario Steinebach, 03.01.2014 11:10
Literatur (2) NICHTPHILATELIE:
Die Faszination der Länder, die es nicht mehr gibt
Norman Davies dicker Wälzer über "Verschwundene Reiche" beeindruckt durch glasklaren Stil und Detailwissen
Norman Davies (Jahrgang 1939) ist einer der erfreulichen englischen Historik-Professoren, deren Bücher so
glänzend geschrieben sind, dass sie auch Nicht-Akademiker begeistern können. Sein neues Buch dreht sich um "Verschwundene Reiche".
Das Spezialgebiet von Norman Davies ist die Geschichte Osteuropas mit Schwerpunkt Polen. Bekannt wurde er auch in Deutschland
vor allem mit einer Geschichte dieses Landes, die inzwischen als Standardwerk gilt, und einer beeindruckenden Abhandlung zum
Warschauer Aufstand, den viele immer noch mit dem Ghetto-Aufstand verwechseln.
Sein neuestes Buch "Verschwundene Reiche" ist wiederum ein Monumentalwerk von fast eintausend Seiten, vor dem
man aber nicht gleich zu kapitulieren braucht. Denn die einzelnen Kapitel sind in sich abgeschlossen, so dass
man sie sich happenweise zu Gemüte führen kann. Darüber hinaus erweist sich Davies auch in diesem Werk als
Meister des glasklaren, lakonischen Stils, der das Lesen fast durchgängig unbeschwerlich macht.
Wer kennt schon die Eintagesrepublik Ruthenien oder das "Reich des schwarzen Berges" Montenegro? Auch dass
Coburg und Schloss Rosenau mit Prinz Albert als Gemahl der deutschstämmigen Königin Victoria einmal gleichsam
den Nabel der Welt bildeten, dürfte außerhalb Oberfrankens weniger bekannt sein. Wenn es "wie durch Zauberei"
die Namensänderung in "Windsor" und die Trickserei der Genealogen nicht gegeben hätte, dann wäre die Hochzeit
von Prinzessin Elisabeth mit Prinz Philip 1947 die einer von Sachsen-Coburg und Gotha mit einem von
Schleswig-Holstein-Sonderburg-Glücksburg gewesen. Nicht nur Königin Victoria und Albert sprachen untereinander
deutsch. Lady Diana Spencer, im übrigen die erste seit 300 Jahren von vorrangig englischer Abstammung in der Nähe
des Thrones, bemerkte etwas giftig, sie heirate in eine deutsche Familie ein.
207 versunkene Reiche
Das Verschwinden der Sowjetunion auf Nimmerwiedersehen hätte ihn zu dem Buch inspiriert, bekennt Norman Davies,
und dann wolle er einmal zeigen, dass Geschichtsschreibung entgegen ihrem Ruf nicht immer nur eine der Sieger sei.
Davies behandelt neben der Sowjetunion und den schon erwähnten so illustre Reiche wie Alt-Clud, Burgund, Litauen,
Borussia, Savoyen, Galizien, Eire u.a. Die Kapitel sind jeweils in drei Teile gegliedert. Im ersten gibt es eine
geographisch-kulturelle Annäherung beinah im Plauderton, im zweiten, dem ausführlichsten, folgt eine konzentrierte
Geschichtsstunde und im dritten eine Bestandsaufnahme von dem, was heute noch von dem jeweiligen Reich im allgemeinen
Bewusstsein lebendig geblieben ist. Allein 207 gezählte versunkene Reiche in Europa standen zur Verfügung und so
mag die Auswahl etwas willkürlich erscheinen, interessant ist sie es umso mehr.
Tausend Jahre auf 20 Seiten
Den Geschichtsreport mit Hang zu Namensballungen frischt der Autor mit Anekdotischem und Kuriosem auf. Nicht
bei jedem Reich ist sein Engagement gleich. Kommt der Autor jedoch auf sein Spezialgebiet, nämlich Polen, Litauen,
Russland, östliches Mitteleuropa zu sprechen, gelingen ihm äußerst spannende Schilderungen. (Sein "Überengagement"
hinsichtlich Polens hat ihn übrigens einmal die Professur der Nobel-Universität Stanford gekostet!) Bei Byzanz geht
Davies sehr merkwürdig vor, indem er unverhohlen Edward Gibbon huldigt, dem genialen autodidaktischen Briten des
18. Jahrhunderts, der mit seiner monumentalen "Geschichte des Verfalls und Untergangs des Römischen Reiches" (mit
Byzanz) das wohl geistvollste historische Werk aller Zeiten geschaffen hat.
An ihm wollte sich der Autor nicht messen lassen, da jeder Historiker gegenüber Gibbon den Kürzeren ziehen müsse.
Und so hat das tausendjährige Byzanz bei Davies nicht einmal 20 Seiten.
Im Kapitel über Borussia (Preußen) behandelt Davies die Frage nach der Schuld am Ersten Weltkrieg und lehnt die
pauschale Verurteilung Deutschlands ab. Genauso schuld sei Russland mit seiner Generalmobilmachung gewesen. Und
waren sich die Engländer nicht völlig im Klaren, dass sie mit ihrem Eintritt in den Krieg aus einem Regionalkonflikt
zwangsläufig einen Weltkrieg machen würden?
"Verschwundene Reiche" ist so übervoll an historischen Details, (nicht immer) Wissenswertem, Beiläufigem und
Überraschendem, dass man die Kenntniserweiterung des Lesers als enorm bezeichnen muss. Dabei handelt es sich keinesfalls
um eines jener um die Überflüssigkeit von Text wetteifernden, gefälligen Bilderbüchern, die preiswert fast zu jedem
Thema, vor allem aber zur Geschichte in den Buchhandlungen ausliegen.
Nebenbei: Davies bricht für das Internet eine Lanze, indem er nachweist, dass die Printmedien, wenigstens in
seinem Gebiet, nicht weniger fehlerhaft sind als das gescholtene Netz.
Aus: BERNHARD WINDISCH; Nürnberger Nachrichten, 13.1.2014, Seite 27
Norman Davies: Verschwundene Reiche. Die Geschichte des vergessenen Europa. Theiss Verlag, Darmstadt. 926 S., 39,90 €.